Herr R. lebt mittlerweile seit 25 Jahren – in der Schweiz. Er kommt damals als Bürgerkriegsflüchtling in die Schweiz und stellt ein Asylgesuch. Rund zweieinhalb Jahre später wird dieses abgelehnt, weshalb Herr R. fortan als abgewiesener Asylsuchender mit dem Drohszenario seiner Ausschaffung in der Schweiz lebt – eine Ausschaffung, die faktisch nicht möglich ist, da der Bürgerkrieg in seinem Herkunftsland kein absehbares Ende erwarten lässt.
Mit dieser Situation teilt er das Schicksal von damals tausenden, abgewiesenen, aber faktisch nicht rückführbaren Asylsuchenden, die ihr Asylgesuch in den 80er oder 90er Jahren gestellt haben: sie erhalten kein Bleiberecht, können aber auch nicht zurück in ihr Herkunftsland (ausgeschafft werden). Die Schweizer Asylpolitik reagiert auf das Paradoxum lange so, wie fast immer: gar nicht. Erst im Jahr 2000, als die Situation schlicht unhaltbar wird, ordnet sie im Rahmen der «Humanitären Aktion 2000» eine Art kollektiver Amnestie an. Im Zuge derselben erhält Herr R. eine vorläufige Aufnahme (VA). Rund ein Jahr später, anno 2001, erhält er über ein Härtefallgesuch eine Aufenthaltsbewilligung (B). Sein Aufenthalt in der Schweiz scheint nach neun Jahren erstmals gesichert.
Die Jahre zuvor haben indes ihre Spuren bei Herrn R. hinterlassen. In seinem Herkunftsland schwersten Foltererlebnissen ausgesetzt (was ihm die Schweizer Behörden im Asylverfahren nie glaubten), kann er diese mangels professioneller Unterstützung nie verarbeiten. Als Ersatzmassnahme sucht er Zuflucht im Alkohol. 2005 zerbricht seine Ehe am immer stärkeren Alkoholismus – seine Frau kehrt zurück in das Herkunftsland und nimmt die beiden gemeinsamen, in der Schweiz geborenen Kinder mit. Herr R. stürzt sich darauf in zwei Dinge: seine Arbeit und (leider) noch mehr Alkohol. Praktisch mit Beginn seines Aufenthaltes in der Schweiz hat er bis zum Jahre 2011 beinahe durchgehend in verschiedenen Niedriglohnbranchen gearbeitet. Da er zwar arbeitet, aber sehr schlecht verdient und bereits viel Geld zu seinen Verwandten schickt, nimmt er einen Kredit über CHF 20’0000.- bei der Cembra Money Bank auf, um seine Kinder finanziell zu unterstützen – ein Kredit, bei welchem er lediglich die monatlichen, horrenden Zinsen abzahlen kann (Anm. d. Redaktion: «Go fuck yourself, Christa Rigozzi!»). Als er im November 2006 alkoholisiert mit dem Velo nach Hause fährt, verursacht er einen Unfall und wird wegen einfacher Körperverletzung verurteilt. Ein Strafregistereintrag und eine Busse sind die Folgen. Im Frühling 2010 bricht er zusammen, wird für zwei Monate einer stationären psychiatrischen Einrichtung zugewiesen und beginnt eine Suchttherapie, die er aber wieder abbricht. Im Sommer 2011 verliert er seine bis dato letzte Anstellung und hat im Alter von 53 Jahren plötzlich Mühe, eine neue Stelle zu finden. Er bezieht Arbeitslosengeld und kann die Zinsen des Kreditvertrages nicht mehr zurückzahlen. Dadurch häuft er Schulden an, die in den nächsten drei Jahren auf rund CHF 25’000.- anwachsen. Als sein Anspruch auf Arbeitslosengeld verfällt, landet er in der Sozialhilfe, die er bis heute nicht mehr verlässt, wenngleich er weiterhin Arbeit sucht und an Eingliederungsmassnahmen und Beschäftigungsprogrammen teilnimmt. In der Sozialhilfe häufen sich bis heute Bezüge in der Gesamthöhe einer sechsstelligen Summe an.
Gesundheitlich geht es ihm immer schlechter: er entwickelt chronische Folgeerkrankungen seines Alkoholismus und baut kognitiv immer stärker ab, ist krank. Im Mai 2016 wird er erneut für zwei Monate einer stationären psychiatrischen Einrichtung zugewiesen. Im Anschluss an den Aufenthalt verliert er seine Wohnung und wird der Notschlafstelle zugeteilt. Die muss er jeweils morgens um 8.00 Uhr verlassen und darf erst Abends um 19.30 Uhr wieder zurückkehren. Den Rest des Tages verbringt er notgedrungen auf der Strasse, ist bis heute halb obdachlos.
Im August 2016 kündigt das kantonale Migrationsamt an, seine Aufenthaltsbewilligung nicht mehr zu verlängern. Im gewährten rechtlichen Gehör wird die ganze Situation von Herrn R. dargelegt. Er ist mittlerweile 59 Jahre alt. Ende Mai 2017 verfügt das Migrationsamt die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und die damit verbundene Wegweisung von Herrn R. Die Begründung: Sozialhilfeabhängigkeit und Schulden. Er muss die Schweiz per Ende August 2017 verlassen. Seine Rechtsvertretung reicht Beschwerde ein. Ausgang des Verfahrens: ungewiss.
Der ohnehin fehlgeleitete, überstrapazierte und völlig missverständliche Begriff der «Integration» darf sich nicht wie aktuell hauptsächlich auf die finanziellen Verhältnisse der betroffenen Personen stützen. Bei Verfahren, in welchen der Integrationsgrad einer Person von Relevanz ist, darf sich dieser nicht hauptsächlich darüber definieren, ob eine Person «genügend Geld» hat.
Sozialhilfeabhängigkeit oder Schulden dürfen weder als Widerrufsgrund einer Bewilligung noch als Hindernis für einen Familiennachzug gelten.
Personen, die seit mehr als 5 Jahren in der Schweiz leben dürfen nicht ausgeschafft werden! Schon gar nicht aus finanziellen Beweggründen.