U. lebt die ersten 25 Jahre seines Lebens in einem nordafrikanischen Land, in ärmsten Verhältnissen. Anno 2004 flüchtet er unter widrigen Umständen nach Europa und landet in der Schweiz. Er stellt ein Asylgesuch, doch dieses wird umgehend abgelehnt. Er will nicht zurück in sein Herkunftsland, wird aber unter bis heute unklaren Umständen ausgeschafft. Er selbst sagte dazu:
«Sie setzten mich auf einen Stuhl und sprühten mir etwas ins Gesicht. Als ich aufwachte war ich da, wo ich ursprünglich herkam.»
U. zieht weiter, flüchtet nach Libyen und versucht sein Glück dort. Er arbeitet einige Jahre unter miesesten Bedingungen – doch dann erschüttert der Bürgerkrieg seine neue Heimat. U. flüchtet in die Türkei. dort verdingt er sich weitere drei bis vier Jahre in Jobs, deren Bedingungen das Wort «Mindeststandards» auf jeder Ebene ad absurdum führen. Mitte 2015 kann er nicht mehr und entschliesst sich, noch einmal Richtung Westeuropa zu gehen, um dort möglicherweise eine Chance zu erhalten. Über die sog. «Balkanroute» flüchtet er während rund vier Monaten zu Fuss bis in die Schweiz. Unterwegs wird er in Ungarn polizeilich erfasst, muss seine Fingerabdrücke abgeben. In der Schweiz angekommen wird er verhaftet und seine Wegweisung nach Ungarn wird festgestellt – ein neues Asylgesuch stellt er indes nicht. Gegen den Wegweisungsentscheid erhebt er mittels eines Anwaltes Beschwerde und lebt fortan in der Nothilfe – er wartet auf den Entscheid, doch seine Perspektiven sind ungewiss und düster. Er findet Kolleg*innen und darüber wiederum einen Platz, wo er wohnen kann, statt dies in der Notschlafstelle zu tun. Doch nach etwa einem halben Jahr ist diese Option erschöpft und U. müsste in die Notschlafstelle. Dies verweigert er, wird lieber obdachlos – und verschwindet plötzlich.
Kurze Zeit nach seinem Verschwinden wird U.s Körper im Herbst 2016 leblos im Rhein gefunden. Die genauen Umstände seines Todes wurden nie geklärt.
Schulden als Grund dafür, jemandem das «Recht auf Familie» zu verweigern? Klingt absurd und ist es auch. Tatsache ist aber, dass M.s Schulden als «schwerwiegender Verstoss gegen die öffentliche Ordnung in der Schweiz» gelten. Gegen den Entscheid wurde eine Beschwerde eingereicht, das Verfahren ist aktuell hängig.
Wer ist Flüchtling? Was soll das Wort bedeuten? Gibts es «echte» und «unechte» Flüchtlinge? Und wer darf wohin gehen und dort auch ankommen? Die Schweiz, die EU, im Prinzip die gesamte westliche Hemisphäre als Destinationsraum für Migrant*innen, hat in den letzten Jahrzehnten verschiedenste Klassifizierungen für migrierende Personen aufgebaut. Unter dem Strich resultierte daraus, dass sich der Begriff des «Flüchtlings» auf der juristischen Ebene verhärtete und im allgemeinen Sprachgebrauch einengte. Der Flüchtlingsbegriff bleibt starr und schliesst den allergrössten Teil der Gesuchstellenden aus. Abseits vom Flüchtlingsbereich und des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA) wurden die Zuwanderungsmöglichkeiten für Migrant*innen soweit eingeschränkt, dass prinzipiell nur noch legal einwandern darf, wer über eine adäquate Ausbildung oder die nötigen finanziellen Mittel verfügt. Die Folgen dieser doppelten Verhärtung sehen wir tagtäglich: ertrinkende Menschen im Mittelmeer; der Aufstieg zaunerrichtender Geisteskranker wie Donald Trump oder Viktor Orban; unter dem Existenzminimum lebende Personen in der Schweiz; Zustände wie in Como, Calais, Ceuta oder Athen; Sans-Papiers oder abgewiesene Asylsuchende, die in die Kleinkriminalität oder die Prostitution getrieben werden; etc.
U.s Reise endete in unbegreiflicher Tragik. Und leider ist sie nur eine von wahrscheinlich Millionen von persönlichen Geschichten, die nie erzählt werden und deren Antagonisten bei der Suche nach einer Perspektive im Leben gnadenlos am System auflaufen. Diese Systematik zu verändern ist eine der wichtigsten und grössten gesellschaftlichen Notwendigkeiten unserer Gegenwart. Mehr dazu von uns im Manifest.